Klimaneutralität im Fokus direkter Demokratie

Artikel

Über Handicaps und Chancen einer selbstorganisierten Volksabstimmung zum 1,5-Grad-Ziel. 

Eine Klima-Demonstration mit einem Plakat: Wir sind der Wandel

Mehr als 170.000 Menschen haben sich bereits für ein virtuelles Plebiszit angemeldet (Stand: 7.6.2021), das im September von der Initiative Abstimmung 21 (Abst.21) veranstaltet wird.[i] Bundesweit soll über die Petitionsthemen Klimawende 1,5-Grad, Keine Profite mit Krankenhäusern, Organspenden-Widerspruchslösung und Einführung bundesweiter Volksabstimmungen votiert werden. Dass dieses Vorhaben funktioniert, wurde 2020 in einer Probeabstimmung mit rund 46.000 Teilnehmer*innen unter Beweis gestellt. Dabei waren sechs Themen – unter anderem zum Mindestlohn, Frackingverbot und zur Agrarwende – einem sozialökologischen Strukturwandel gewidmet.[ii]

Inzwischen ist dieser Themenzuschnitt durch einen gesundheitspolitischen Schwerpunkt ersetzt worden: In einem zweimonatigen Votingsprozess wurde ermittelt, welche beiden Vorschläge zusätzlich zu den vom Leitungsteam bereits beschlossenen Themen – Klimawende 1,5,-Grad und Einführung bundesweiter Volksabstimmungen – im September zur Abstimmung stehen.

Um Haaresbreite missglückt

Um ein massenhaftes Voting zu ermöglichen, hat das Team den Themenwettbewerb auf zwei Petitionsplattformen, Change.org und open.Petition, durchgeführt: Daran beteiligten sich 429.620 Personen und stimmten im Zeitraum vom 8.Februar bis 31.März über mehr als 500 Petitionen ab. Anders als bei Change.org geschah dies bei openPetition in zwei Stufen: Im Februar wurde über 262 Vorschläge entschieden und in der zweiten Phase über 133 Petitionen, die zuvor mindestens 100 Unterschriften erhalten haben. Hierbei konnten sich, wiederum im Unterschied zu Change.org, nur Personen beteiligen, die zuvor auf der Plattform aktiv waren. Nach Angaben von openPetition sollten so „Manipulationen durch große Lobbyverbände und Netzwerke“ vermieden werden. Dass dies nicht gelang, zeigen folgende Einblicke:

Während der ersten Votingphase erreichte bei openPetition die Petition Längere Gewährleistung von Produkten, ein der anfänglichen Orientierung von Abst.21 nahe stehender Vorschlag, den höchsten Zustimmungswert, wurde aber während der zweiten Phase von der Petition Keine Profite mit Krankenhäusern deutlich übertroffen. Diese nahm mit mehr als 19.000 Unterschriften im März eine Spitzenposition ein. Am 30.3., einen Tag vor Beendigung des Voting, rückte sie jedoch auf den zweiten Platz. Denn tags zuvor wurde für die Petition Abschaffung der Beitragsfinanzierung des Öffentlichen Rundfunks auf dem rechtsorientierten YouTube Kanal achse: ostwest geworben. Im Handumdrehen wurden mehrere Tausend Unterstützer*innen mobilisiert. Mit über 32.000 Unterschriften wäre diese Eingabe ins endgültige Themenprofil von Abst.21 gelangt, wäre sie nicht sofort am 1.4. vom Portal entfernt worden – versehen mit dem Hinweis, die Petition sei fälschlicherweise an den Bundestag adressiert. Denn für Neuregelungen des Rundfunkbeitrags seien die Landesparlamente zuständig. Auf diesen Fehler hatten externe Beobachter openPetition kurz nach Ende der Abstimmung aufmerksam gemacht.

Dies bedeutet, Abst. 21 hätte um Haaresbreite an einer raffiniert gepushten Petition mit unverkennbar demokratieschädigender, die Presse- und Meinungsfreiheit einschränkender Tendenz scheitern können. Ihr neues attraktives Profil verdankt sie nun einer stichhaltig begründeten Petition zu einer gemeinwohlorientierten Krankenhausfinanzierung.

Weniger spektakulär ist der Auswahlprozess bei Change.org verlaufen: Seit Anfang März übernahm dort die Petition Organspende rettet Leben! Wir fordern die Widerspruchsregelung! die Führungsrolle. Damit rückte die relativ erfolgreiche Petition Schluss mit geheimem Lobbyismus! trotz aktueller Korruptionsskandale in der CDU/CSU auf den zweiten und zeitweise dritten Platz. Mit der Organspendepetition ist ein an Einzelschicksalen orientiertes, berechtigtes Anliegen von einer engagierten Interessengruppe in die Spitzenposition versetzt worden – zum Nachteil  jener Eingaben, die an gesamtgesellschaftlichen Belangen orientiert sind, wie etwa die Petitionen CETA ist ein trojanisches Pferd, wir müssen das Abkommen stoppen!, Rauf mit dem Mindestlohn – 12EURO+!oder Sicherheit neu denken: Kooperation statt Militär. Dies schien sogar das Leitungsteam irritiert zu haben, denn bei der o.g. Anti-Lobbyismus-Petition handelte es sich um eine Eingabe, die von abgeordnetenwatch.de initiiert wurde – einem Transparenzportal, das zum Trägerkreis von Abst. 21 gehört.[iii]

Was folgt aus alledem? Droht damit der Versuch, Petitionen zu direktdemokratischen Einflussinstrumenten weiterzuentwickeln, bereits im Vorfeld zu scheitern?

Zwiespalt zwischen politischer Entschiedenheit und Neutralität

Zunächst erscheint die Entscheidung des Leitungsteams, die Zielgruppen auf beiden Plattformen über zwei weitere Themen abstimmen zu lassen, unter dem Gesichtspunkt direktdemokratischer Mitwirkung schlüssig. Dabei wurde jedoch die anfängliche Orientierung an einer inhaltlich stimmigen Rahmensetzung zugunsten eines extrem unübersichtlichen und beliebigen Prozederes aufgegeben: Aufgrund der getrennten Präsentation der Themen auf zwei Plattformen und ihrer Wiedergabe nach Zustimmungswerten war es nur mit viel Zeitaufwand möglich, die Themen mit anderen, demselben politischen Handlungsfeld zugehörigen zu vergleichen und sich hierzu eine kohärente Übersicht zu verschaffen. Ferner wurden auf beiden Plattformen Vorschläge zu identischen Themen wie bspw. zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens zugelassen und damit das Chancengleichheitsprinzip gegenüber anderen Eingaben missachtet.

Für diese und andere Mängel war offenbar der „urdemokratische“ Gedanke maßgeblich, Bürger*innen ohne inhaltliche Lenkung über „alles und jedes“ abstimmen zu lassen und auf diesem Weg so viele Menschen wie möglich an dem Projekt zu beteiligen.

Von solchem Laisser-faire gehen jedoch enorme Gefahren aus: Wer direkte Demokratie mit thematisch indifferenten Abstimmungsprozeduren gleichsetzt, lässt eine transparente Strukturierung vermissen. Wer im Netz einen ausufernden Themenwettbewerb in Szene setzt, verliert früher oder später darüber die Kontrolle. Wer von Teilnehmenden erwartet, sich ständig entscheiden zu müssen, schwächt ihre kompetente Beteiligung. Und wer schließlich „um der Demokratie willen“ nur seine neutrale Schiedsrichterrolle im Blick hat, sieht sich unversehens von demokratiefeindlichen Angriffen überrumpelt. Populistische Vereinnahmungen der Eingabepraxis sind jedoch keine Seltenheit und in letzter Zeit vor allem von Corona-Leugner*innen oder Verharmloser*innen ausgegangen.[iv] Beim Voting bei Change.org hat sich dies daran bemerkbar gemacht, dass eine höchst zwielichtige Petition mit der Forderung Nie wieder unsinnige Lockdowns! den dritten Platz erringen konnte.  

Damit scheint sich eine unter der Hand geäußerte Kritik am Neutralitätsverständnis der beiden Plattformen zu bestätigen, die an Abst.21 beteiligt sind: Die Kampagnenorganisation Campact, die sich selbst als eine für „progressive Politik streitende Bürgerbewegung“ versteht, wirft vor allem Change.org. vor, sich gegenüber den inhaltlichen Anliegen der Petitent*innen indifferent zu verhalten und selbst keine vorwärtsweisenden politischen Ziele zu verfolgen. Inzwischen lässt sich diese Kritik zwar mit dem Hinweis auf eine Vielzahl fortschrittlicher Change.org-Petitionen entkräften, die auch für den Probelauf von Abst.21 maßgeblich waren, sowie mit dem Argument, dass diese Plattform einen sehr guten Ruf genießt, wenn es darum geht, progressive politischen Eingaben wirkungsvoll zu verbreiten. Aber gleichzeitig hat der von Abst.21 durchgeführte Themenwettbewerb deutlich gezeigt, dass basisdemokratische Votings ohne kluge organisatorische Vorkehrungen und inhaltliches Engagement in Sackgassen geraten können.

Immerhin startet jetzt Abst.21 mit zwei Gesetzgebungsvorschlägen, die sich auf höchst aktuelle Gemeinwohlansprüche beziehen: einem klima- und einem gesundheitspolitisch zentralen Thema. Wie wichtig und sinnvoll es war, sich frühzeitig und sehr entschieden auf das erste Thema festzulegen, hat sich einen Monat nach Beendigung des Votings gezeigt.

Rückenwind durch das Karlsruher Urteil

Das klimapolitische Kernanliegen des Plebiszits – die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen – hat Ende April vom Bundesfassungsgericht (BVerfG) und seinem bahnbrechenden Urteil zur Revision des Klimaschutzgesetzes erheblichen Rückenwind bekommen: Das bisherige Gesetz der Regierung wurde teilweise für verfassungswidrig erklärt, weil es die Freiheitsrechte und Lebenserwartungen nachwachsender Generationen ignoriert hat.

Mit dieser Entscheidung ist das bisher weitreichendste klimapolitische Urteil gesprochen worden. Aufgrund des hohen Ansehens des BVerfGs dürfte von ihm nach Expert*innenmeinung eine weltweite Signalwirkung auf die weitere Rechtsprechung, insbesondere was die juristische Begründung eines fundamentalen Grundrechts auf Zukunft betrifft, ausgehen.[v] Insgesamt sind derzeit mehrere Klimaschutzklagen anhängig[vi], darunter eine von sechs Kindern und Jugendlichen aus Portugal, die 33 europäische Staaten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Hinblick auf einen wesentlich stringenteren Klimaschutz anklagen: Sie erwarten von der Europäische Union (EU), ihr bisheriges CO₂-Reduktionsziel von 55 Prozent auf mindestens 65 Prozent bis 2030 zu erhöhen.[vii] 

In die gleiche Richtung zielt die Gesetzgebungsvorlage von Abst.21, die Klimaneutralität in Deutschland bis 2035, einen Kohleausstieg bis 2030 und eine vollständige Versorgung mit erneuerbaren Energien bis 2035 beinhaltet.[viii]  Die jüngsten Pläne der Regierung zu einem neuen Gesetz sind diesen Zielvorstellungen erkennbar näher gerückt: Klimaneutralität soll in Deutschland bis 2045 fünf Jahre früher als bisher erreicht werden; und für den Weg dorthin werden zusätzlich Zwischenziele genannt, unter anderem eine Treibhausgasreduktion um 65 statt 55 Prozent bis 2030 und um 88 Prozent bis 2040 im Vergleich zu 1990. Damit wird zugleich dem bisherigen Klimaziel der EU, die Treibhausgase bis 2030 um 55 Prozent zu veringern, Rechnung getragen.[ix]

Das Karlsruher Urteil gibt jedoch Anlass zu weitaus höher gesteckten Zielen. Dies geht aus ersten Stellungnahmen prominenter Kläger*innen zum Urteil hervor: Der Rechtsphilosoph und Nachhaltigkeitsforscher Felix Ekardt und die Rechtsanwältin Franziska Heß weisen darauf hin, dass die Regierung nicht nur das Klimaschutzgesetz, sondern ebenso ihre gesamte Klimapolitik auf den Prüfstand stellen müsse. Angesichts der Verbindlichkeit des Pariser Klimaziels sei es geboten, „die Emissionsneutralität deutlich vor 2040“ zu erreichen, ja man benötige sogar „bis 2035, 2030 oder noch früher null Emissionen weltweit in allen Wirtschaftszweigen, einschließlich der Bereiche Landwirtschaft, Kunststoffe und Zement“. Deshalb laute nunmehr „die Gretchenfrage für die neue Bundesregierung“, ob sie dazu bereit sei, „auf europäischer Ebene die richtige Rolle zu spielen und (finanzielle) Lösungen zu finden, bei denen auch die Länder des globalen Südens eingebunden werden.“[x]

Diese Erwartung, beim Klimaschutz voranzugehen und gleichzeitig andere, ärmere Regionen massiv in der Bekämpfung der Klimakrise zu unterstützen, wurde anfangs auch im Gesetzgebungsvorschlag zur Probeabstimmung von Abst.21 geäußert.[xi]

Künftige klimapolitische Herausforderungen

Aus beiden Perspektiven ist somit eine konsequente Umorientierung geboten, die über neue Etappenziele zur Herstellung von Klimaneutralität – den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien, frühzeitigeren Kohleausstieg, industriellen Einsatz grünen Wasserstoffs und die Umsetzung erhöhter CO2-Bepreisungen – weit hinausreicht. Eine wirksame Klimapolitik muss vielmehr ressortübergreifend auch auf zentrale klimapolitische Konfliktfelder europäischer und globaler Reichweite reagieren, die in folgender Übersicht im Einzelnen aufgelistet sind; und sie darf, wie bspw. aus Recherchen des Journalisten Harald Schumann hervorgeht, vor tiefgreifenden Markteingriffen durch steuerpolitische Umverteilungen und eine konsequente Neuausrichtung der Subventionspolitik nicht zurückschrecken.[xii]

Klimapolitische Herausforderungen auf europäischer und internationaler Ebene

 Informationen und Quellenhinweise zu den theoretischen Hintergründen und Ideengeber*innen finden sich im Anhang (PDF-Download)

  • Wirksame Vereinbarungen zum Stopp globalen Artensterbens; konsequente Renaturierungsmaßnahmen in der Agrarwirtschaft, Boden- und Meeresbewirtschaftung
  • Verdoppelung der Hilfsgelder reicher Industrienationen für den globalen Klimaschutz
  • Durchsetzung sozialökologisch stabiler Lieferketten, die von der Rohstoffgewinnung bis hin zur Endfertigung kontrolliert werden
  • Überprüfung und ggf. Neuverhandlung der EU-Freihandelsabkommen (insbesondere der Abkommen mit Kanada und den Mercosur-Staaten)
  • Aufkündigung des Energiecharta-Vertrags durch die EU-Mitgliedsstaaten
  • Einführung einer Mengenbesteuerung aller in die EU importierten fossilen Energieträger, verbunden mit der Verpflichtung, einen Teil der Steuererträge für den Aufbau postfossiler Ökonomien in jenen Staaten bereitzustellen, die aufgrund der Exporteinbußen in besondere Bedrängnis geraten
  • Durchsetzung einer Rohstoffwende mit dem Ziel einer absoluten Reduktion des Rohstoffverbrauchs der reichen Industrieländer
  • Beendigung aller klimaschädlichen Subventionen und Investments der Finanzindustrie in die fossile Energieerzeugung
  • Vermeidung umweltbelastender „Brückentechnologien“ und Verfahren der Kohlenstoffspeicherung (Atomenergie, Erdgas, Carbon Capture and Storage, Holzbewirtschaftung von Kraftwerken)
  • Paradigmenwechsel im Städtebau: zunehmende Nutzung organischer Materialien (Bambus und Holz) an Stelle von Stahlbeton und Zement bei gleichzeitigem Schutz artenreicher Primärwälder
  • Maßnahmen zu einer sozial gerechten Klimapolitik in der EU: z.B. Einführung einer Klimaprämie für alle Haushalte bzw. Ökobonusregelung für geringere Einkommen, kostengünstiger Nahverkehr (z.B. durch Einführung eines 375 € Jahrestickets), gebührenfreie Kinderbetreuung, Einführung eines Mietendeckels, höhere Mindestlöhne, sanktionsfreie Mindestsicherung zur Gewährleistung des Existenzminimums
  • Lastenausgleich zwischen Arm und Reich: Einführung eines globalen Mindeststeuersatzes für Unternehmen sowie einer progessiven Vermögens- und Erbschaftssteuer als Beitrag zur staatlichen Finanzierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen
  • Aussetzen der Schuldenbremse bei öffentlichen Investitionen zur Sicherung künftiger Lebensverhältnisse (öffentliche Infrastruktur, Bildung, Wohnen u.a.m.); Abänderung des im Vertrag von Maastricht vereinbarten Stabilitäts-paktes – insbesondere der Regel, die jährlichen Neuverschuldung auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung zu begrenzen; europaweite Anwendung der „goldenen Regel“
  • Förderung von Lebenstilen, bei denen die Nachfrage nach energieintensiven Dienstleistungen und Produkten durch Umbau des Steuersystems und Arbeitszeitverkürzungen abnimmt
  • Durchsetzung einer Wachstumswende, die an einem selektiven, qualitativ hochwertigen Wirtschaftswachstum und an Prinzipien der Kreislaufwirtschaft orientiert ist, auf einer stetigen Verringerung des Energie- und Rohstoffverbrauchs (Suffizienzprinzip) basiert, eine Regionalisierung von Stoffkreisläufen begünstigt und zur Entwicklung vielfältiger Geschicklichkeiten im „analogen Raum“ anregt

 

Weiterführende Impulse

Die hier genannten Anforderungsbereiche werden in der neuen Gesetzgebungsvorlage für die Hauptabstimmung [xiii]nicht berücksichtigt. Denn sämtliche Maßnahmen konzentrieren sich auf eine stringente Klimawende in Deutschland und weisen nur in Ausnahmefällen darüber hinaus, wenn für deren Realisierung zusätzliche Vorkehrungen auf europäischer Ebene erforderlich sind: etwa bei der Durchsetzung einer ökologisch konsequenten Agrarwende und Bodennutzung, Einführung eines Emissionshandels zur Absenkung des Nutztierbestands, Verlagerung des Güterfernverkehrs auf die Schiene oder beim Verbot von Binnen- und Kurzstreckenflügen.[xiv]

Dies mag man bedauern, doch scheint angesichts der Bundestagswahl die Konzentration auf Aspekte, die hauptsächlich Deutschland betreffen, verständlich. Dabei leuchtet vor allem ein, dass es beim 1,5-Grad-Ziel auf den klimapolitischen Beitrag der „viertgrößten Volkwirtschaft der Welt“ ankommt, die „als maßgebendes Vorbild vorangehen“ muss (S.38, 60). Ebenso stichhaltig erscheint, dass sich das Initiativenteam auf den wissenschaftlich basierten Budget-Ansatz beruft, aus dem hervorgeht, wie viele Treibhausgasemissionen jedem Land noch zustehen, wenn das 1,5 Grad Ziel eingehalten werden soll. Für Deutschland wird hierzu angenommen, dass die Emissionen bis 2035 „von über elf Tonnen CO2-Äquivalenten auf unter eine halbe Tonne CO2-Äquivalente pro Person und Jahr“ sinken müssen (S.44, 46).

Dieses Ziel soll als Staatsziel in einem „sektorübergreifenden Klimaschutzgesetz“ festgeschrieben und von der neuen Bundesregierung sofort in Angriff genommen werden. Hierzu wird ein 20-Punkte umfassendes Maßnahmenpaket vorgeschlagen, das sich auf die Bereiche Klimawende (hier zu den Eckpunkten CO2-Bepreisung, Klimaprämie für Privathaushalte, Schaffung neuer Arbeitsplätze), Energie, Verkehr, Landwirtschaft und Bodennutzung, Gebäude und Heizen, Industrie sowie auf den Bereich klimafreundliche Standards in der Alltagswelt erstreckt (S.45, 47-59).

Im Anschluss an die Wiedergabe des 20-Punkte-Programms werden nicht nur die wichtigsten Pro und Contra Argumente zur Gesetzgebungsvorlage aufgeführt, sondern darüber hinaus auch Einzelargumente, die sich auf wichtige Vorbehalte gegenüber exponierten Maßnahmen beziehen. So wird etwa darauf aufmerksam gemacht, dass „Solar-und Windkraftanlagen wie auch Speicher (zum Beispiel in E-Autos) auf Rohstoffe angewiesen“ seien, „deren Abbau oft mit ‚Menschenrechtsverletzungen, gewaltsamen Konflikten und gravierenden Umweltschäden‘ einhergeht“; oder auf ein „neokoloniales Verhalten“, wenn „aus Ländern erneuerbare Energie importiert werden soll, obwohl diese Länder ihren eigenen Bedarf nicht decken können.“ (S.68)

Fazit: Der Gesetzgebungsvorschlag zielt auf ein sehr ambitioniertes Vorhaben ab, das unter anderem von Empfehlungen der im Oktober 2020 veröffentlichten Studie „CO2-neutral bis 2035: Eckpunkte eines deutschen Beitrags zur Einhaltung der 1,5°C-Grenze“ inspiriert ist, die von Fridays for Future und der GLS Bank beim Wuppertal Institut in Auftrag worden ist. Zugleich tragen die abschließenden Vorbehalte dazu bei, den auf Klimaneutralität in Deutschland konzentrierten Diskurs um den Aspekt flankierender Maßnahmen zu erweitern – transnationaler Verpflichtungen, ohne die eine weltweit wirksame Klimapolitik kaum Aussicht auf Erfolg haben wird.

Dies wirft die Frage auf, welche politischen Akteure sich am ehesten den damit verbundenen Herausforderungen stellen könnten. Vielleicht kommen dafür auch all jene zivilgesellschaftlichen Initiativen in Betracht, die sich derzeit darum bemühen, vor Ort, in Städten und Gemeinden, eine Klimawende von unten mit Bürgerbegehren und Volksentscheiden herbeizuführen?[xv] Denn grundsätzlich könnten solche direktdemokratischen Interventionen auf kommunaler Ebene auch transnationale Hilfsprojekte und Klimabündnisse mit einschließen.[xvi] 

Ausblick

Primär kommt es jetzt darauf an, das Karlsruher Urteil mitsamt seiner klima- und umweltpolitischen Implikationen ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und dem Klimaschutz im Vorfeld der Bundestagswahl höchste Priorität einzuräumen.

Dies strebt nicht nur Abst.21, sondern ebenso ein von Campact organisiertes Aktionsbündnis an, zu dem sich dreizehn namhafte NGOs zusammengeschlossen haben[xvii] : Für ein so genanntes Klima-Pledge sollenBürger*innen mit ihren Unterschriften das Versprechen abgeben, bei der Bundestagswahl nur Parteien zu wählen, die sich aus ihrer Sicht am überzeugendsten für den Klimaschutz einsetzen. Auf diese Weise soll ein „Wettrennen der Parteien um den konsequentesten Klimaschutz“ ausgelöst werden.[xviii]

Die Initiative ist kurz vor Beginn der ersten Programm-Parteitage gestartet worden. Sie sind  Anlass für den Appell an die demokratischen Parteien (CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und Linke), im Wahlkampf konkrete Vorschläge zu einem ambitionierten Klimaschutz zu präsentieren. Mittlerweile haben sich der „größten Klima-Kampagne, die es je zu einer Wahl gegeben hat“[xix] mehr als 310.000 Menschen angeschlossen (Stand: 7.6.2021).

In der Pledge-Kampagne wird von der nächsten Bundesregierung verlangt, mit einem konsequenten Umstieg auf erneuerbare Energien sowie einer grundlegenden Verkehrs- und Agrarwende „Klimagerechtigkeit und den Schutz der Artenvielfalt zur obersten Priorität zu machen“. Der Aufruf ist jedoch nicht mit Wahlprüfsteinen versehen, die für einen aussagekräftigen Parteienwettstreit um die besten Lösungswege und ebenso für sachkundige Wahlentscheidungen erforderlich sind. Außerdem werden zu den o.g. Herausforderungen auf europäischer und internationaler Ebene keinerlei Hinweise gegeben.[xx]

Wenn bis zur Bundestagswahl nun zwei Mobilisierungen in deutlicher Abgrenzung zueinander, beide jedoch im Namen „der“ Klimabewegung stattfinden, so gibt dies Anlass zur Befürchtung, dass hierbei Alleinvertretungsansprüche die Oberhand gewinnen. Würden hingegen die Projektleitungen von Campact und Abst.21 diesem Eindruck entgegentreten und sich wechselseitig auf ihre Vorhaben einlassen, so könnten sie sich sinnvoll ergänzen.  Bei einigem guten Willen ließe sich sogar eine kampagnenübergreifende klimapolitische Allianz bilden: Mit einer Beteiligung von mindestens 1 Million Bürger*innen, die ebenso von der Pledge-Initiative wie von Abst.21 angestrebt wird, wäre es möglich, gleichzeitig, sowohl in den Parteien als auch in der Zivilgesellschaft, Willensbildungsprozesse zur künftigen Klimapolitik anzustoßen. Mit anderen Worten: An Stelle eines „Wettkampfs“ um den wirksamsten Einfluss auf die Parteien und die künftige Regierung könnten Synergieeffekte durch ein geschicktes Zusammenspiel aller klimapolitisch engagierten Kräfte angestrebt werden. 

Doch auch unter Maßgabe weiterhin fortbestehender Konkurrenz wird sich das Projekt Abst. 21 behaupten können: Denn nach dem Urteil aus Karlsruhe dürfte die zur Abstimmung gestellte gesetzliche Verpflichtung zur Klimaneutralität bis 2035 und zum Kohleausstieg bis 2030 auf erhöhtes Interesse stoßen, wenn darüber in den einschlägigen Medien berichtet wird. Zudem verleiht das direktdemokratische Procedere einer Pro und Contra-Abwägung den „Klima-Versprechen“ mehr Glaubwürdigkeit. Auf diese Weise kann den Bestrebungen zu einem Kurswechsel in den Parteien von Seiten der Basis zusätzlich Schubkraft verliehen werden. Klimaktivist*innen, NGOs und interessierte Bürgerforen – wie der im April einberufene Bürgerrat Klima – wären deshalb gut beraten, den von Abst.21 eingeschlagenen Weg zivilgesellschaftlicher Willensbildung als Chance zu nutzen: als selbstorganisierte, sachkundig moderierte und eigenverantwortlich gestaltete Spielart direkter Demokratie.   

Stand: 7.6.2021 


[i] Der Trägerkreis der seit August 2020 öffentlich präsenten Initiative setzt sich aus den beiden Petitionsplattformen Change.org und openPetition.de sowie Mehr Demokratie e.V., Democracy International e.V, German Zero e.V. und Omnibus Direkte Demokratie.Org zusammen.

[ii] Martin Zülch, Die Abstimmungsoption, taz, 17.11.2020, Langfassung, Heinrich Böll Stiftung Bremen, 22.10.2020

[iii] Vgl. openPetition, Jörg  Mitzlaff, Deutschland stimmt ab  14.2.2021; Abstimmung 21 Newsletter von Olaf Seeling; You Tube, achse ost-west,mündlicher Aufruf von Feroz Kahn am 29.3.2021 zur Unterstützung der Petition Abschaffung des Rundfunkbeitrags; Initiative Bunte Kittel der Petition Keine Profite mit Krankenhäusern, Mitteilung vom 30.3. 2021; rundfunk-frei auf facebook, Mitteilung vom 31.3.2021 um 10.30 zum Gewinner bei open petiition; Stellungnahme von openPetition am 1.4.2021, Neuigkeiten zur Abschaffung der Beitragsfinanzierung des Öffentlichen Rundfunks

[v] Felix Ekardt, Franziska Heß, Sankt Nimmerlein war gestern, Internationale Politik und Gesellschaft, 7.5.2021

[vi] Vgl. Greenpeace, Das Undenkbare schaffen, 29.4.2021

[vii] Thomas Hummel, Klimaklage aus Portugal: "So etwas gab es bisher nicht", Süddeutsche Zeitung 4.4.2021, Stephan Rahmstorf, Wie gut ist das Klima-Ziel der EU? Der Spiegel 4.10.20

[ix]    Susanne Schwarz, Bundesregierung will Klimaziele erhöhen, taz, 6.5.2021, Susanne Götze, Klimarevolution aus Karlsruhe, Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2021,

[x] Felix Ekardt, Franziska Heß, Sankt Nimmerlein war gestern, a.a.o.

[xi] ebd., S.9

[xii] Claudia Detsch, Wie vermeiden wir die Klimadiktatur? Interview mit dem investigativen Journalisten Harald Schumann, Mitbegründer des länderübergreifenden Rechercheverbunds Investigative Europe, IPG, 17.5.2021

[xiv] ebd. S.52, 54

[xv]   Vgl. Umweltinstitut München, Mehr Demokratie e.V. u.a. Klimawende von unten. Durch direkte Demokratie die Klimapolitk in die Hand nehmen

[xvi] Vgl. hierzu die langjährigen Bestrebungen des europäischen Städtenetzwerks Klima-Bündnis            

[xvii] Avaaz, BUND, Deutscher Naturschutzring, Fridays for Future, Germanwatch, GermanZero, Klima-Allianz Deutschland, NABU, Naturfreunde Deutschlands, Together for Future

[xix]  Campact, Newsletter vom 11.5.2021

[xx]   Dieser Mangel an Sachbezogenheit könnte womöglich mit der Zusammensetzung des Bündnisses zusammenhängen (vgl. Endnote 10). Die Pledge-Kampagne wird zwar bereits von einem stattlichen Trägerkreis getragen, aber dabei ist nicht zu übersehen, welche NGOs dem Bündnis nicht angehören: Attac, .ausgestrahlt, Lobby Control, das Netzwerk Gerechter Welthandel, die Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace, Robin Wood, PowerShift und urgewald – Akteure, die dem „Klima-Verprechen“ womöglich noch weit mehr „Ecken und Kanten“ verliehen hätten.